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Die Schule ihrer Zeit

Eichstätter „Coronagewinner“ und warum „echte“ Digitalisierung in Schulen mehr ist, als Tablets und Videokonferenzen

„Themaverfehlung“ – so lesen es viele Schüler, wenn sie zum Beispiel in einer Textanalyse eine schlechte Note bekommen, weil sie den Sinn und Kern eines Textes nicht verstanden und daher am eigentlichen Thema vorbei analysiert und diskutiert haben. Wenn aktuell von „Videokonferenzen“ als Beispiel für die Digitalisierung des Schulunterrichts oder in Unternehmen gesprochen wird, ist das – Sie ahnen es – wohl auch ein Stück weit eine solche Themaverfehlung. Die Mathe-Textaufgabe und der selbe alte Lehrfilm, der nun per Videokonferenz übertragen wird, bietet keinen digitalen Mehrwert. „Echte“ Digitalisierung muss mehr sein als nur der digitale Übertragungsweg der Lehrinhalte von Lehrer zu Schüler. Im Gegenteil: Der Präsenzunterricht fehlt massiv, schließlich geht es um junge Menschen. Dennoch: Schule ist in Sachen der eigentlichen Digitalisierung bisher selbst ein Stück weit durchgefallen. So sehen es nicht nur die Macher des Instituts für digitales Lernen in Eichstätt, sondern auch viele andere Experten. Dabei gebe es längst viele gute Ansätze in zahllosen Schulen. Man habe alles, was man dazu braucht. In dem Eichstätter Institut hat man unter anderem für sächsische Schüler längst digitale Unterrichtsmodule entwickelt, die die Schüler mehr in ihren heutigen Realität abholen und als Querschnittsthemen immer auch Schlüsselkompetenzen wie Medienkompetenz vermitteln: ein Stück „echte“ Digitalisierung made in Eichstätt.

Die Schule ihrer Zeit
Digitalpädadgogen: Marcus Ventzke und Florian Sochatzy vom Institut für digitales Lernen wollen digitale Möglichkeiten nutzen, um Schüler auf die Welt von Morgen vorzubereiten. Foto: Zengerle

„Gerüstet für das 21. Jahrhundert“ oder „Weiterer Schritt zur Digitalisierung“ – so oder so ähnlich lauteten in Pandemiezeiten auch in der Region immer wieder die Überschriften. Dabei war immer wieder von „Viel Schub für Digitalisierung an Schulen“ die Rede. Man habe neue Tablets und andere Geräte angeschafft, und der Unterricht per Videokonferenzsoftware funktioniere inzwischen reibungslos, ist da zu lesen. Das alles immer unter dem Schlagwort: Digitalisierung der Schulen. Aber geht es wirklich darum? Ist das wirklich die vielzitierte Digitalisierung, die die Schulen brauchen, um die Schüler auf die Herausforderungen einer digitalen Welt vorzubereiten?

„Ganz klar: Nein“, sagen Florian Sochatzy und Marcus Ventzke, die gemeinsam mit Johannes Grapentin das Eichstätter Institut für digitales Lernen leiten. Natürlich, Homeoffice und Homeschooling sind wichtige neue Komponenten, die auch in Zukunft eine wichtige Rolle in den Unternehmen, vielleicht auch in Schulen spielen könnten, glauben auch Sochatzy und Ventzke. Manche Inhalte könnten im intensiven Studio am Bildschirm erarbeitet werden und anschließend wieder gemeinsam in der Schule besprochen werden – so, wie man es in Pandemiezeiten zwangsweise bereits getan hat. Allerdings eben nur dort, wo es den Schülern auch nutzen könne.

Wie bei Wirtschaftsunternehmen auch kratzen Videokonferenzen, schnelles Internet oder digitale Geräte eigentlich nur an der Oberfläche der Digitalisierung: Sie verändern vieles, erleichtern Besprechungen, helfen, den Kundenkontakt zu vereinfachen und Reisekosten zu vermindern, erleichtern den Datenaustausch. Das ja. Doch das ist in den meisten Branchen zu kurz gesprungen: Es geht in weiteren Schritten auch um eine Digitalisierung der Strukturen und Prozesse, um neue Geschäftsmodelle, um intelligente Steuerung von vernetzten Prozessen in Echtzeit, um die Nutzung von Daten zur Verbesserung von Abläufen und Produkten – und um einen neuen Zugang zum Kunden, dem man die eigenen Produkte so viel besser nahebringen könnte.

In den Schulen wären das die Schüler und der Lernstoff. Hier sind Tablets und die Videosoftware auch allenfalls die Basis für das, was Digitalisierung eigentlich ausmacht, glauben die Macher beim Institut für digitales Lernen in Eichstätt: Wie bei den Unternehmen gehe es auch hier vielmehr darum, Schule neu zu denken, Strukturen und Inhalte anders aufzubereiten – und zwar so, dass diejenigen, um die es geht, möglichst optimal auf die neue, digitale Welt der Zukunft vorbereitet seien: die Schüler. Das Kapitel in Geschichte beginnt mit dem Strahl einer Taschenlampe, die in den Nachthimmel leuchtet. Das Symbolbild soll den Schülern das Thema der Lehreinheit „Instrumentalisierung der Vergangenheit“ plastisch vermitteln: dass Geschichtsschreibung eben auch immer nur ein Ausschnitt der komplexen Realität der Vergangenheit sein kann und dass sie abgesehen von den Fakten auch anders hätte ausfallen können. Danach lernen die Schüler anhand von historischen Propagandavideos wie etwa von Ernst Thälmann, aber auch mit dem Trailer eines Hollywood-Blockbusters, wie Geschichte inszeniert werden kann und schon damals inszeniert wurde. In interaktiven Elementen können die Schüler ausprobieren, wie Farbgebung, Kameraeinstellungen oder auch einzelne Worte und Formulierungen die Sicht auf historische Fakten verändern können.

Die Schule ihrer Zeit
Multimediale Schulbücher aus Eichstätt: Das Institut für digitales Lernen in Eichstätt (links). Hier sowie über das Internet vernetzt an vielen Orten weltweit entstehen digitale Lernmodule (siehe unten). Foto: Zengerle
Multimedialer Unterricht ist gefragt. Wer hat’s gemacht? Am Anfang jeder Lerneinheit stellt sich der Autor in einem kurzen Statement vor und erklärt, was ihn bei der Erstellung bewegt hat – eine ganz persönliche Quellenangabe im Schulbuch. Interaktiv Geschichte lernen – und über deren Relevanz für die Gegenwart.

Die Welt – so eine der zentralen Botschaften – war damals wie heute zu komplex, als dass man sie auch nur annähernd umfassend vermitteln könnte. Stattdessen haben Akteure immer einfache Grundmotive, sogenannte Narrative, benutzt, um ihre eigenen Versionen von Geschichte zu erschaffen. Das lässt sich durch die digitale Technik auch im Unterricht anhand von zeitgenössischen Tweets und Social-Media-Beiträgen und Youtube-Videos anwenden. Wie erkennt man hier diese Narrative, die Erzählungen, die dahinter stecken und wie kann man sie von den Fakten unterscheiden? Und wie war das damals? Wie etwa wurde die sogenannte „Dolchstoßlegende“ als historische Verschwörungserzählung selbst in vermeintlich objektiven Geschichtsbüchern aus den Jahren 1929, 1943 und 1984 und 1996 beschrieben? Beim Vergleichen der Ausschnitte erfahren die Schüler, wie extrem unterschiedlich die Autoren der Schulbücher mit dem Thema umgehen. Und so stellt sich in dem interaktiven, digitalen Schulbuch made in Eichstätt zu Beginn immer der Autor des Kapitels selbst in einem kurzen Videoclip vor und erklärt, was ihn an dem Kapitel bewegt hat, worum es ihm ging, was ihm Spaß gemacht, was ihm schwer gefallen ist.

Investitionsbedarf in Milliardenhöhe

Die Schüler sollten dadurch sofort sehen, dass es auch hier, bei dem digitalen und interaktiven Schulbuch, eine individuelle Person, ein Mensch ist, der – natürlich auf der Basis der Lehrpläne und nach bestem Wissen und Gewissen, aber eben auch nur mit seinen eigenen Möglichkeiten dieses Kapitel erschaffen hat, sagt Marcus Ventzke, selbst studierter Historiker. Sie und ihr Team beschäftigen sich seit vielen Jahren mit der Erschaffung solcher digit

aler Lernwelten, die „Schule nicht völlig neu erfinden wollen“, wie sie klarstellen. Es habe – digital oder nicht – schon immer viele spannende Projekte gegeben, und in den letzten Jahren habe sich viel, viel Positives getan, sagen Ventzke und Sochatzy. Aber es bleibe eben oft nur Stückwerk. Vieles sei noch verkrustet, nicht auf der Höhe der Zeit und nicht genug in der Welt verwurzelt, die die Schüler selbst jeden Tag erleben – geschweige denn auf die Zukunft vorbereitet.

Spätestens mit der Coronapandemie hat das Interesse am Thema Bildung noch einmal erheblich zugenommen. Dabei lag schon zuvor vieles im Argen: 46,5 Milliarden Euro wären laut dem Deutschen Institut für Urbanistik nötig, um die deutschen Schulgebäude auf Vordermann zu bringen. Zum Vergleich: bei den Straßen sind es 33,6 Milliarden Euro. Dabei fehlt es auf der anderen Seite gar nicht am Geld: Der Bildungsetat ist mit 21 Milliarden für dieses Jahr der fünftgrößte unter den 14 Bundesministerien. Auch die Töpfe des „Digitalpakt Schule“ von 2019 in Höhe von insgesamt fünf Milliarden Euro sowie weiterer 1,5 Milliarden aus Zusatzvereinbarungen als Folge der Pandemie stehen für die Digitalisierung der Schulen zur Verfügung. Allein: Sie werden nicht immer abgerufen. Zu bürokratisch, zu kompliziert – so beschreiben Experten das Schulsystem.

„Wir sind echte Coronagewinner“

Und so haben es auch die Eichstätter Digitalisierer erlebt. „Wenn man so will, sind wir echte Coronagewinner“, sagen Florian Sochatzy und Marcus Ventzke. Mit dem ersten Lockdown sei ganz plötzlich Bewegung in die Sache gekommen. Das Telefon klingelte weit mehr als sonst. „Plötzlich wollten alle etwas von uns – und zwar am besten sofort“, erzählt Sochatzy. Dabei arbeiten sie schon seit vielen Jahren an digitalen Unterrichtskonzepten – die weit über Videokonferenzsoftware hinausgehen. Ihr Institut aber habe sich seitdem auf rund 40 Mitarbeiter in etwa verdoppelt – alles voll digitalisiert und durch Vernetzung mit Mitarbeitern auf der ganzen Welt.

Schon seit vielen Jahren beschäftigen sie sich mit digitalen Unterrichtskonzepten und haben digitale Schulbücher entwickelt – nicht, weil man alles neu erfinden müsse oder dieselben Inhalte auf einem Bildschirm etwas anderes seien. Sondern, weil die Digitalisierung neue Chancen, aber auch Anforderungen an Unterricht stelle. Auch bei den Schulbuchverlagen stieß das auf großes Interesse: Cornelsen, neben Klett und Westermann einer der großen deutschen Schulbuchverlage mit einem Jahresumsatz von rund 300 Millionen Euro, hatte sich bei den Eichstättern eingekauft und dafür die Cornelsen mBook GmbH gegründet. Doch wie im gesamten Bildungssystem auch sei hier vieles eher zäh und bürokratisch gelaufen. Nach drei Jahren machen die Eichstätter daher nun wieder ihr eigenes Ding und setzen weiter ihre eigenen digital inspirierten Ideen um.

Die pädagogischen und inhaltlichen Konzepte dahinter seien dabei nicht neu. Viele seien schon lange vorhanden und an vielen Stellen und in vielen Schulen längst im Einsatz: Statt Frontalunterricht und Auswendiglernen etwa mehr Ansätze, bei denen Schüler selbst Inhalte erarbeiten wie etwa bei „Lernen durch Lehren“, wie sie Didaktiker Jean-Pol Martin schon seit 1982 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt entwickelt hat – nun eben mit den neuen digitalen Möglichkeiten viel einfacher und plastischer. Oder Elemente wie beim Marchtaler Plan, wie sie unter anderem in Eichstätt Maria Ward als Schule in kirchlicher Trägerschaft umsetzt. Dabei werden zum Beispiel gesellschaftlich relevante Themen in mehreren Fächern von verschiedenen Seiten beleuchtet. Raus in den Wald im Biologieunterricht – das sei auch weiter die beste Möglichkeit, finden auch Ventzke und Sochatzy.

Virtuelle Realitäten: Ein Team vom Institut für digitales Lernen erstellt digitale Lernwelten, in denen die Schüler Wissen nicht auswendig lernen, sondern „erleben“ sollen. Foto: oh

Da das aber nicht nicht immer und zum Beispiel in der Großstadt flächendeckend kaum möglich sein wird, setzen hier digitale Konzepte an, um den Schülern die Welt außerhalb des Klassenzimmers auch so plastisch wie möglich nahezubringen. Die Reise in die Lehreinheit zum Thema „Globale Wirtschaftskreisläufe“ beginnt im Hamburger Hafen – allerdings ohne aufwendigen und teuren Schulausflug, sondern virtuell, per Virtual-Reality-Brille: Die Schüler sehen riesige Ozeanriesen und Massen an Containern, sie spüren die gewaltige Menge an Gütern, die in einer globalisierten Wirtschaft umgeschlagen werden. Sie betreten einen Container, erkunden die Waren darin, erfahren, wo der Kaffee herkommt, wie die Kostenstrukturen sind, wer wieviel verdient und anderes mehr.

Eine andere Gruppe beschäftigt sich mit dem Thema Nachhaltigkeit, erlebt, wie Forstwirtschaft funktioniert und wo überall Holz verwendet wird, wie lange es dauert, bis ein Wald wächst und warum der Gedanke der Nachhaltigkeit aus der Forstwirtschaft kommt – aber längst in allen Wirtschaftsbereichen eine wichtige Rolle spielt. Wieder andere Schüler haben sich für den Themenkreis Wertschöpfung und Digitalisierung entschieden und erfahren, wie die digitale Wirtschaft funktioniert und warum Daten dafür wichtig, aber gleichzeitig auch schützenswert sind. Das alles vernetzt und immer anwendungs- und kompetenzorientiert. Verschiedene Wege – ein Ziel: Interesse wecken, nachhaltiges Wissen vermitteln, Perspektiven wechseln. Vernetztes und in kleinen Aufgaben immer wieder direkt angewandtes Wissen – so sieht es aus, wenn ein digitales Schulbuch eben auf denselben Seiten eine Vielzahl an Möglichkeiten bietet und jederzeit angepasst werden kann, ohne dass das Buch dafür permanent umgeschrieben und neu gedruckt werden müsste. So kann man auch relativ schnell und unkompliziert aktuelle Themen als neues Modul in den Unterricht einbinden.

„Warum brauchen wir eigentlich Helden?“

In einer anderen Einheit entdecken Schüler in Geschichte mithilfe eines digitalen Stadtplans die mittelalterlichen Reste einer modernen Stadt, ihre innere Ordnung und machen sich anhand von historischen Strukturen auf die Suche nach den einstigen Standorten von Händlervierteln und den Gerüchen, die damals dort geherrscht haben müssen, oder überlegen sich anhand von historischen Vorschriften, welche Strafen ihnen drohten, wenn sie bewaffnet ins Landshut des 13. Jahrhunderts gekommen wären – immer interaktiv mit entsprechenden Aufgaben und Veranschaulichungen.

In einem weiteren Modul beschäftigen sich Schüler mit der Frage „Warum brauchen wir eigentlich Helden?“ Was sind Helden? Was darf ein Held? Spannende Fragen, wenn eine Comicverfilmung und ein Actionkracher nach dem anderen und unzählige Computerspiele den jungen Menschen zeigen, dass sich Helden nicht an Regeln zu halten brauchen und es ja offensichtlich nichts ausmacht, wenn bei einer Verfolgungsjagd und Schießerei im öffentlichen Raum 100 Unschuldige sterben, damit der Held den einen Bösewicht fangen kann. Die Schüler sehen Ausschnitte aus den Comics und setzen sich mit den Taten und coolen Sprüchen der Helden aus Comics, Hollywoodfilmen oder Harry Potter auseinander. Sich unterhalten lassen, schadet auch im Unterricht nicht – aber eben auch nicht, wenn man weiß, wie man das Ganze einordnen muss.

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Was sind Helden? Und was dürfen die? Anhand von Harry Potter, Comic-Helden, Fußballer Cristiano Ronaldo oder erfolgreichen Infuencern lernen die Schüler, was eigentlich echte Vorbilder und Helden ausmacht – und ob die immer berühmt sein müssen.

„Warum Mathe?“

„Warum Fremdsprachen, wenn ein In-Ear-Translator alle Sprachen simultan übersetzt? Warum Mathe, wenn eine App alle Ergebnisse berechnet und auch die Rechenwege erklärt?“ „Warum Chemie, wenn eine VR-Umgebung alle chemischen Verbindungen auf Zuruf darstellen und neu kombinieren kann?“ Solche und andere Fragen hat Sochatzy in einem Vortrag an Bildungsexperten des deutschen Bundes- tags gestellt. Und kurz vor unserem Gespräch hatte er ein Videotelefonat mit Bildungsexperten des bayerischen Landtags. Die Fragen seien natürlich provokativ gemeint, sagt Sochatzy. Es gehe gar nicht darum, alles abzuschaffen. Aber es gehe dennoch dar- um, Schule neu zu denken. Letztlich seien es einfache Fragen: Was müssen junge Menschen in Zukunft können? Worauf kommt es an? Wer könnte die Zukunft gestalten? Sochatzys Antwort gegenüber den Vertretern des Bundestags: „Konzentrierte, neugierige, teamfähige mündige, intrinsisch motivierte, humane, reflexionsstarke, kritische, risikoaffine, zufriedene, versatile, resiliente, kreative, gestalterische, moralisch geformte, empathische, organisierte und ökonomiefähige Bürger mit Werkzeugen zur Welterklärung und Weltgestaltung.“ Das klingt ein wenig nach der berühmten eierlegenden Wollmilchsau. Aber die Richtung ist klar.

Es gebe immer noch viel zu viel Frontalunterricht und einseitige Wissensvermittlung, um den Schülern die Inhalte eines vollgepackten Lehrplans nahezubringen. Wissen, dass sie sich für Prüfungen schnell eintrichtern, um es dann größtenteils ähnlich schnell wieder zu vergessen. Auch viele Lehrer wünschen sich da mehr Freiheiten und mehr Raum für Basiskompetenzen wie Medienkompetenz oder Werte- vermittlung und echte Vernetzung in Zeiten des zunehmenden Individualismus. „Auswahl und Bewertung statt Anhäufung von Wissen anregen“ und stattdessen der „Erwerb von transferfähigem, ,intelligentem’ Wissen“, so hat es Sochatzy in dem Vortrag mit den Vertretern des Bundestags erklärt. „Teamfähigkeit statt Einzelkämpfertum“ und „Kreativität statt Systemkonformität“ seien heute mehr denn je wichtig – gerade auch in der modernen, immer digitaleren Wirtschaft, in der in Deutschland eben gerade kreative Köpfe und „echte Querdenker“ – denn die haben überhaupt nichts mit den vermeintlichen Querdenkern auf den Demonstrationen zu tun, die das Wort missbrauchen.

Dabei seien Perspektivenwechsel und der Austausch verschiedener Meinungen und Perspektiven, das Hineinversetzen in andere, heute entscheidend, wo oft auch Algorithmen darüber bestimmen, was viele Menschen zu sehen und zu lesen bekommen. Diese Entwicklungen kann man schlimm finden und versuchen, sie aufzuhalten oder zurückzudrehen. Oder man kann sich auch in der Schule darauf vorbereiten, die Schattenseiten herausarbeiten und die Schüler dagegen wappnen und ihnen Wege zeigen, wie sie die positiven Chancen und Möglichkeiten nutzen. Auch viele Lehrer wünschen sich das. „Ich würde ja gerne, aber ich weiß nicht wie und ich habe keine Zeit. Ist nicht im Lehr- plan vorgesehen.“ So oder so ähnlich beschreiben es mehrere Eichstätter Lehrer.

„Schule ist immer die Schule ihrer Zeit. Wer auf die Schule im Deutschland der 50er Jahre schaut und sie mit der Schule der 90er Jahre vergleicht, wird grundlegende organisatorische, fachinhaltliche und didaktische Veränderungen feststellen, denn Schule ist nicht autark, ist nicht abgekoppelt von all den Wandlungsprozessen der Gesellschaft“, so heißt es in Sochatzys und Ventzkes elektronischem Buch „Bildung digital gestalten“. Aber unsere Schule sei ein wenig von einer sich rasant weiterentwickelnden Welt abgehängt worden, sagen Florian Sochatzy und Marcus Ventzke.

Es gehe aber dabei nicht in erster Linie um die Diskussion ob Tafel und Kreide oder doch Tablet – sondern auch um die Konsequenzen einer Informationsgesellschaft, in der Wissen weiter wichtig ist, aber auch überall verfügbar ist. Es geht oft vielmehr darum, Informationen richtig einzuschätzen, Wissen anwendbar zu machen. Man muss nicht alles wissen, aber man muss sich zu helfen wissen, so sagt man. Das wäre dann wohl doch als Grundkonzept für Schule wieder zu einfach, aber falsch ist es deswegen auch nicht. Denn Informationen sind im Überfluss vorhanden. Aber welche sind relevant? Welche sind nach objektiven Kriterien erarbeitet und dargestellt? Aus welcher Quelle stammen sie?

Pisa-Studie schreckt auf

In der neuesten Pisa-Studie, deren Ergebnisse Anfang Mai vorgestellt wurden, werde inzwischen im Rahmen der Lesekompetenz nicht nur abgefragt, ob Schüler einen Text verstehen, sondern auch, ob sie die Fähigkeit haben, glaubwürdige Quellen im Internet von den unglaubwürdigen zu unterscheiden. Ein mündiger Leser – oder User – des 21. Jahrhunderts muss einordnen. Kein Text ohne Kontext oder Subtext. Das erschreckende Ergebnis der Studie: Nicht einmal die Hälfte, nämlich 45 Prozent der deutschen Schülerinnen und Schüler, sind in der Lage, Fakten von Meinungen zu unterscheiden. Nur rund die Hälfte gab zudem an, dass sie über das Erkennen subjektiv gefärbter Texte im Unterricht etwas lernen würde. Wer Fakten von Meinungen, seriöse Information von Marketing nicht unterscheiden kann, der ist manipulierbar – im besten Fall nur für subtile Werbebotschaften der Influencer oder Marketingkampagnen.

Wer erlebt hat, wie rasend schnell sich Verschwörungstheorien gerade in Zeiten, in denen Unsicherheit, Ängste und Sorgen ohnehin für Probleme sorgen, selbst unter gestandenen und intelligenten Erwachsenen so stark verbreiten können, dass sie – ohne jeden noch so kleinen echten Beweis – an die große Verschwörung und weltumspannende, kinderbluttrinkende Geheimbünde glauben, der kann sich vorstellen, wie schwierig es für Kinder und Jugendliche sein muss, sich in diesem Wust an Information zurechtzufinden. Das Problem war auch in der Pandemie, dass es zwar einerseits noch zu wenig fundiertes Wissen gab und gibt – nämlich auf der wissenschaftlichen Seite.

Die Schule ihrer Zeit
Gefragt als Experte: Florian Sochatzy bei einem seiner Vorträge zu Digitalisierung und Bildungstrends. Foto: oh

Auf der anderen Seite ist aber so viel vermeintliches oder aus dem Zusammenhang gerissenes Teil- wissen oder schlichtweg manipulativ aufbereitete Propaganda, die sich andererseits unter berechtigte Kritik mischt. Es sind einfache psychologische Phänomene die sich über viele Jahrtausende der Menschheitsgeschichte entwickelt haben, die heute durch totale Vernetzung und eine völlig neue Umgebung auf die Probe gestellt werden. Wenn man nicht mehr selbst mit jemandem spricht und dabei Körpersprache erlebt und Augenkontakt hat, fällt es vielen Menschen offenbar schwer, kritisch zu sein. Sprache kann sehr manipulativ sein, inszenierte Bilder vermitteln Authentizität, vermeintliche Freude mit denen man vernetzt ist, suggerieren Glaubwürdigkeit, und digital wird mit modern gleichgesetzt.

Aber wo beginnt Manipulation und wie erkennt man sie? Wo wird umgedeutet und die Geschichte im Nachhinein vielleicht einfach nur zu einer spannenden, aber eben auch schwarz-weißgemalten Heldengeschichte für Hollywood? Und wo wurden in der Vergangenheit Propaganda und historische Fake News produziert? Genau darum geht es neben der Vermittlung historischer Fakten eben auch in dem digitalen und interaktiven Schulbuch, das die Eichstätter „Digitalpädagogen“ für den Freistaat Sachsen entwickelt haben: um Geschichte, aber eben auch um die Vermittlung von Medienkompetenz. Die Schüler sollen auch analysieren und anwenden. Denn Manipulationsversuche und Fake News sind in unserer heutigen Welt und insbesondere in der all- täglichen Erlebniswelt der sozialen Medien an der Tagesordnung.

Und selbst Fake News mit Vergangenheitsbezug kommen darin vor: Etwa die nachweislich gefälschten „The Protocols“, der „angeblichen Weisen von Zion“, die heute als vermeintlich historisches Dokument immer noch von Antisemiten im Internet verbreitet werden. Wie erkennt man solche Falschmeldungen, die es natürlich schon immer gab, die aber durch die modernen digitalen Medien weit einfacher verbreitet werden können und massenhaft gelesen werden? Faktenchecken, Medienkompetenz und vernetztes Wissen sind gefragt. Die Digitalisierung stellt nicht nur viele Herausforderungen. Sie bietet auch das Rüstzeug dafür.

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