TopthemaWirtschaftWissen

Klopapier und Lieferketten

Von leeren Klopapierregalen in Pandemiezeiten bis zum Chipmangel – KU-Professor Heinrich Kuhn forscht über Lieferketten

Lieferketten sind in aller Munde und haben sich in Pandemiezeiten einerseits als fragil andererseits als stabil erwiesen. Heinrich Kuhn, Professor für Supply Chain Management – also das Management solcher Lieferketten – von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU) hat sie in Pandemiezeiten untersucht. Müssen wir uns auch in Deutschland sorgen machen? „Nein“, sagt Kuhn. Das Ganze sei vorübergehend – und auch viel Psychologie.

Die weltweiten Warenströme…

…halten die globalisierte Weltwirtschaft zusammen. Das Projekt Shipmap.org hat den Schiffsverkehr im Jahr 2012 getrackt und daraus Animationen erstellt, die zeigen, wie enorm die logistischen Ströme sind.

Sollte die animierte Karte nicht richtig dargestellt werden – hier der direkte Link zu der Seite: https://www.shipmap.org/?mc_cid=7e9224a6d8&mc_eid=4f440ca200

Zehntausende von riesigen Containerschiffen sind dort je nach Einstellung als Punkte im Zeitverlauf zu sehen sehen sind. Oben kann man die Häfen und die Schiffstypen einblenden (Schaltflächen Show/Colours/Filters). Eine beeindruckende logistische Illustration – leider nur auf Englisch, aber auch visuell spannend – hier ein Ausschnitt:

 „Drohender Lieferkettenkollaps: Transportbranche ruft um Hilfe“ – so titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 3. Oktober. „Erst Corona, dann die Container-Klemme: Industrie und Handel warten auf Ware. Nun rufen die Transportarbeiter um Hilfe – sie sind hoffnungslos überlastet und warnen vor dem Zusammenbruch der Lieferketten“, heißt es dort weiter. Selten zuvor hat man das Wort „Lieferketten“ so oft und so prominent lesen und hören können wie in den letzten Monaten – spätestens seit in der Coronazeit vermeintlich das Klopapier auszugehen drohte, war davon regelmäßig die Rede. Später folgten das havarierte Schiff im Suezkanal, der Chipmangel in der Automobilindustrie oder jüngst die leeren Supermarktregale und Spritmangel an den Tankstellen in Großbritannien. Die immerhin hätten vor allem mit hausgemachten Problemen durch den Brexit zu tun, sagt Heinrich Kuhn, Professor für Supply Chain Management – also das Management von solchen Lieferketten – von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU). Es waren und sind spannende Zeiten für ihn und seine Studierenden. Logistik ist gefragt.

Irrationale Erscheinungen

Lieferketten und Handelslogistik in der Coronazeit hat KU-Professor Heinrich Kuhn mit seinem Team analysiert und dabei unter anderem auch ansteigende Umsätze und einige Schwachpunkte in der Coronazeit feststellen können.

Als die Deutschen Bilder von leeren Regalen sahen, in denen sonst eine bunte Auswahl an Klopapier lag, setzten selbst bei einem letztlich weder lebenswichtigen noch wirtschaftlich besonders bedeutenden Gut eine Art Panikkäufe ein – ein Phänomen, das Logistikexperten wie Heinrich Kuhn aber bestens kennen. „Solche irrationalen Erscheinungen hat es immer wieder gegeben“, sagt er. „Bullwhip-Effekt“ („Peitscheneffekt“) nenne man das zum Beispiel, wenn sich die Nachfrage irrational aufschaukle, obwohl es eigentlich genügend Klopapier gebe – wie es ja auch in der Coronazeit gewesen sei, so Kuhn. Es habe weder bei den Fabriken noch in den Lagern einen echten Engpass gegeben, sagt der Logistikexperte.

Doch auch hier komme wieder die Psychologie ins Spiel. Schon allein durch innerbetriebliche Verwerfungen: Großhändler etwa hätten festgestellt, dass Filialleiter überproportional viel bestellt hätten, so dass man am Ende nicht mehr nach der Bestellung vorgegangen sei, sondern nach der sonst üblichen Menge zugeteilt habe. „Und wenn man weiß, dass etwas zugeteilt wird und man vermutet, dass rationiert und zum Beispiel nur die Hälfte geliefert wird – was macht man dann? Man bestellt gleich die doppelte Menge“, erzählt Kuhn. „Die Wissenschaft kennt dieses Phänomen, und wir bilden auch unsere Studierenden so aus.“ In Simulationsprogrammen machten die Studenten selbst solche Erfahrungen. Panik entstehe aus Ungewissheit und Unwissenheit. Und in anderen Ländern seien es auch ganz andere Güter gewesen, die in der Coronazeit knapp geworden seien: in Frankreich etwa bezeichnenderweise Wein – es spielten also auch kulturelle Aspekte eine Rolle.

Hamsterkäufe und wachsender Onlinehandel

Für ihn und seine Studenten waren es spannende Zeiten. Denn wo sich in der Bevölkerung viel über fehlendes Klopapier in Supermarktregalen hunderten, hat Kuhn mit seinem Team eine Studie über die Lebensmittelversorgung in der Coronazeit durchgeführt  (Hier die Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse). Für die Studie „Handelslogistik in Pandemiezeiten. Herausforderungen, Chancen und Lösungsansätze des Lebensmitteleinzelhandels in disruptiven Zeiten. Eine empirische Studie zur Covid-19 Pandemie des Jahres 2020“ hatten Kuhn und seine Partner der Hochschule Geisenheim University den Umgang der Händler mit der Pandemie sowie Schwachstellen oder zum Beispiel die Umsätze im Lebensmittelhandel 2020 untersucht und festgestellt, dass die Umsätze hier durch die Covid-19-Pandemie gestiegen seien. Mehl zum Beispiel habe zu Beginn durch Hamsterkäufe ein Umsatzplus von nahezu 200 Prozent erfahren.

Neuer Studiengang „Digital and Data-Driven Business (D3B)“

Die klassischen automatischen Bestellsysteme hätten bisweilen nicht mehr funktioniert, sondern man habe manuell nachbessern müssen, um Fehlentwicklungen auszugleichen, so Kuhn. Zudem habe sich gezeigt, dass auch in Deutschland der Online-Lebensmittelhandel durchaus umsetzbar und konkurrenzfähig sei. Im Vergleich zu vielen europäischen Nachbarn wie Frankreich oder England sei man hier schon lange hinten dran. Während der Online-Lebensmittelhandel in Großbritannien schon zuvor einen Anteil von rund zehn Prozent gehabt habe, habe er in Deutschland nur ein Prozent ausgemacht – was auch an der hohen Filialdichte und dem starken Wettbewerb in Deutschland liege. In Pandemiezeiten habe der Onlinehandel aber deutlich zugelegt. „Nicht nur der Online-Handel selbst wird zunehmen, sondern die Notwendigkeit, dass Händler ihre gesamte Logistik noch flexibler anhand einer breiten Datenbasis gestalten“, so Ergebnisse der Studie. Das Wissen für solche zukunftsweisenden Berufsfelder vermittelt die KU seit diesem Wintersemester auch mit dem neuen Studiengang „Digital and Data-Driven Business (D3B)“, der Daten, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz nutzen helfen soll.

Logistik, ein Geschäftsfeld, von dem man ideal idealerweise nur wenig mitbekommt abgesehen von LKWs auf der Autobahn. In den letzten Wochen und Monaten aber war nicht nur wegen des Klopapiers viel viel von Lieferketten die Rede – wenn auch selten unter diesem Wort. Stattdessen gab es Schlagzeilen über die leeren Supermarktregale in Großbritannien, das havarierte Schiff im Suezkanal, Chipmangel in der Autoindustrie oder stark schwankende Rohstoffpreise in der Bauwirtschaft – viele verschiedene Themen, die alle stark mit Logistik oder eben jenen Lieferketten verbunden sind.

Mit der Coronakrise hat sich auch gezeigt, dass die durchaus fragil sind, wenn sich die Umstände ändern. Mehrere Faktoren hätten dabei eine Rolle gespielt. Der Coronaschock, auf den viele Kunden mit Stornierungen von Bestellungen reagiert und viele Produzenten ihre Produktion heruntergefahren hätten. Dazu die Einschränkungen im Personen- und Frachtverkehr – insbesondere im Flugverkehr. Engpässe bei Containerschiffkapazitäten – inklusive der Havarie des Schiffs „Ever Given“ im Suezkanal, einer der wichtigsten Transportrouten im internationalen Frachtverkehr. Und dann noch der extreme Winter in den USA oder Naturkatastrophen anderswo auf der Welt, die zu vorübergehenden Fabrikschließungen etwa in der Chipindustrie geführt hätten.

Elektromobilität und der Chipmangel

Zum Chipmangel trage aber noch ein weiterer Faktor bei: die Elektromobilität. Elektroautos benötigen weit mehr Chips und elektronische Bauteile als Verbrennermotoren – zudem habe sich die Wirtschaft und auch der Automarkt nach dem ersten Coronaschock weit schneller wieder erholt als zunächst erwartet. Neue Chipfabriken hochzuziehen aber geht nicht von Heute auf Morgen. Meist müssen Milliardenbeträge in die Hightechstandorte mit Reinräumen und Hochtechnologie investiert werden, und Errichtung und Hochlaufen einer Hightech-Chipfabrik wie dem neuen Werk des deutschen Herstellers Infineon in Villach, das gerade erst den Betrieb aufgenommen hat, dauert rund zwei Jahre. Zudem würden Chips wie andere Güter auch oft für verschiedene Bearbeitungsschritte rund um die Welt geschickt, bis sie fertig seien und beim Kunden verbaut werden könnten. Und so standen bei den Autobauern weltweit in den letzten Monaten immer wieder kurzzeitig die Bänder still, oder die Fahrzeuge wurden vorproduziert, um die fehlenden Halbleiter später nachträglich einzubauen.

Die Automobilindustrie sei auch ein gutes Beispiel dafür, warum man das Risiko hier auch nicht so einfach durch Lagerhaltung beliebig verringern könne: Es gebe heute alleine bei Autositzen so viele verschiedene, individuell wählbare Varianten, dass eine umfangreiche Lagerhaltung enorm komplex und aufwendig werde.

Dennoch habe in manchen Bereichen nicht erst in der Coronazeit ein Umdenken stattgefunden. Die Unternehmen würden heute noch mehr nach Wegen suchen, sich auch gegen solche ungewöhnlichen Ereignisse abzusichern und die Produktion zumindest zum Teil wieder geografisch näher an ihre Produktionsstätten heranzuholen. Dazu tragen auch politische Fragen bei: Die Einfuhrzölle, die Donald Trump eingeführt hatte, die Regulierungsschritte der chinesischen Führung oder die Wünsche der Europäischen Union, sich in Sachen Chips und Software unabhängiger und weniger erpressbar zu machen. Oft ist das aber wie im Falle der Rohstoffe für die für die Elektromobilität notwendigen Batterien nicht so einfach.

Die moderne Wirtschaftswelt ist verflochten und zum Teil hochkomplex. In der Landwirtschaft etwa gebe es durchaus die Möglichkeit, sich lokaler oder regionaler aufzustellen, in den hochspezialisierten Bereichen aber ist das wieder ganz anders. Und so glaubt Kuhn auch nicht, dass sich durch die Coronazäsur in Sachen Globalisierung und Lieferketten große Veränderungen ergeben. Trotz aller vorübergehenden Verwerfungen – der Markt regle vieles mittel- bis langfristig wieder und die Regierungen wüssten letztlich auch, worauf es ankomme und hätten in der Coronazeit etwa gut reagiert und viele Probleme abgefedert. Die Lebensmittel seien in der Coronazeit schließlich auch nicht ausgegangen.

Sozial- und Umweltstandards entlang der Lieferketten

Aber sie werden gerade zu allem Überfluss auch noch komplett durchforstet. Denn auch die Sozial- und Umweltstandards sind längst in den Fokus gerückt. Zuletzt wurde in Deutschland und Europa über ein Lieferkettengesetz diskutiert, das verpflichtende Regelungen und Standards festlegen soll, die dann über die gesamte Lieferkette eingehalten werden sollen – auch in den Entwicklungs- und Schwellenländern, in denen oft ganz andere Voraussetzungen gelten – so hatten etwa Berichte von Zwangsarbeit der Uiguren in China für einen Aufschrei und für einen Imageschaden für westliche Konzerne gesorgt, die dort Zulieferer hatten.

Auch hier seien viele Unternehmen etwa auch in der Automobilindustrie daran, ihre Lieferketten nicht nur wie bisher nur auf Kosten und Qualitätskriterien zu durchleuchten, sondern eben auch auf ökologische Fragen oder etwa die Einhaltung von Menschenrechten. Durch solche Standards könne man wohl schon etwas bewirken, am Ende aber werde man auch pragmatische Lösungen finden müssen. Die Zölle von Donald Trump haben letztlich vor allem durch höhere Preise den Amerikanern geschadet. Man werde zwar Druck auf China ausüben, aber das chinesische Regime auch nicht zwingen können – Europa sei in manchen Bereichen auf chinesische Waren angewiesen, stellt Heinrich Kuhn klar.

Auch künstliche Intelligenz könne helfen. Unternehmen wie Volkswagen etwa arbeiteten heute an ihrer eigenen Beschaffungs-Cloud und hätten digitale Abbilder ihrer Fabriken, um auf der Basis von Daten aus der Produktion und den Lieferketten in Echtzeit frühzeitig reagieren zu können. Aber am Ende, so glaubt Heinrich Kuhn, brauche es dennoch auch oft gut ausgebildete Studierende, die in dem komplexen System der Beschaffungsmärkte und Lieferketten den Überblick behielten und gerade in Ausnahmesituationen kreative Lösungen fänden. Darauf bereite man die eigenen Studierenden vor, so sagt er – „ein Beruf mit Zukunft“, da ist er sich sicher.

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"