Der Dank an die „große, oft stille Mehrheit“, die seit Monaten umsichtig und verantwortungsvoll handele, steht im Mittelpunkt der Weihnachtsansprache von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, die morgen, am 25. Dezember, ausgestrahlt wird. Steinmeier appelliert darin auch an die Verantwortung des Einzelnen: „Der Staat kann sich nicht für uns die Schutzmaske aufsetzen, er kann sich auch nicht für uns impfen lassen. Nein, es kommt auf uns an, auf jeden Einzelnen“.
In einer Demokratie müsse man nicht immer einer Meinung sein, aber der Zusammenhalt sei wichtig. Es brauche eine Verständigung – auch bei anderen Herausforderungen wie dem Klimaschutz. Die Gesellschaft müsse sich neu darüber verständigen, was Vertrauen, Freiheit und Verantwortung bedeuteten – „natürlich nicht ‚blindes Vertrauen‘, wie der Steinmeier hinzufügt. „Aber heißt Vertrauen nicht womöglich auch, dass ich mich auf kompetenten Rat verlasse, selbst wenn meine eigenen Zweifel nicht gänzlich besiegt sind?“, fragt der Bundespräsident.
Zum Thema Freiheit fragt der Bundespräsident sich in der Ansprache, ob dies der laute Protest gegen jede Vorschrift sei. „Oder bedeutet Freiheit manchmal nicht auch, mich selbst einzuschränken, um die Freiheit anderer zu schützen?“ Wenn es um Verantwortung gehe, stelle sich die Frage, ob einfach gesagt werde, das müsse jeder für sich selbst entscheiden. „Oder betrifft meine Entscheidung nicht in Wahrheit viele andere mit?“
„Es kommt auf uns an“, so der Bundespräsident laut Redemanuskript, dass bereits vorab den Medien vorliegt. Natürlich gebe es Streit, Unsicherheiten und Ängste. Sie auszusprechen, daran werde niemand gehindert, sagt der Bundespräsident. „Entscheidend ist, wie wir darüber sprechen – in der Familie, im Freundeskreis, in der Öffentlichkeit. Wir spüren: Nach zwei Jahren macht sich Frust breit, Gereiztheit, Entfremdung und leider auch offene Aggression.“
„Laut krakeelende Minderheit“
In der Tat! Womit man schnell bei den Anti-Corona-Protesten wäre – einem eigenen Thema, das aber eng damit verbunden ist. Ein Kommentar kurz vor Weihnachten zu einem wenig weihnachtlichen Thema, das aber vielleicht gerade dann passend ist – weil es es dabei um vieles geht, was auch an Weihnachten wichtig ist.
Laut krakeelend ziehen sie durch die Innenstädte – machen Schlagzeilen. Genau darum geht es ihnen auch: provozieren, laut wirken, sich groß machen – größer, als sie sind. Masken tragen viele von ihnen nicht. Dafür Plakate, auf denen oft Beleidigungen gegen Politiker, Wissenschaftler, auf denen Hassbotschaften und Halbwahrheiten oder als quasi schon fast harmlosere Form das Wort „Diktatur“ steht. Dabei beweist gerade die Tatsache, dass sie hier demonstrieren und dass die Polizei ihnen das ohne Genehmigung durchgehen lässt, obwohl viele von ihnen sich nicht an die gültige Maskenpflicht halten und zudem noch beleidigend auftreten, dass sie eben NICHT in einer Diktatur leben.
Dazu reicht ein Blick nach Russland, nach Belarus oder in die Türkei, wo man gleich als Terrorist oder als „ausländischer Agent“ eingestuft, mit Tränengas überreizt, mit dem Wasserwerfer druckbestrahlt oder gleich verprügelt und verhaftet wird, wenn man mit für das Regime unliebsamenen Botschaften auf die Straße geht. Oder nach China, wo selbst weltberühmte Tennissspielerinnen einfach weggesperrt werden. In Hongkong hat es das Marionettenregime Pekings jetzt offenbar inzwischen geschafft, dass die massive Protestbewegung gegen die völlige Einverleibung durch das Pekinger Regime durch Verhaftungen und ein ganzes Instrumentarium an Repressalien kaum mehr eine Rolle spielt. DAS ist Diktatur – nicht das, was hier in Deutschland als Narrativ einiger Weniger als solches bezeichnet wird.
Aber wer das Ganze „Spaziergang“ nennt, wenn es doch eigentlich eine wütende, illegale und an manchen stellen gewaltsame Demonstration ist, wer dazu noch so tut, als würde er gegen eine „Diktatur“ ankämpfen, der kommt sich dabei eben besser vor, als wenn er zugeben müsste, dass es eine laufende Unmutsbekundung ist, die vielleicht auch noch von Rechtsextremen angestachelt (so genau will man es als einzelnes teilnehmendes „ich“ ja vielleicht gar nicht wissen) und in seltsamen Foren auf Telegram oder sonstwo in den (a)sozialen Medien organisiert wurde.
Im Grund geht es um Egoismus: „Ich“ will nicht. „Mich“ belastet das. „Die“ zwingen mich zu etwas, was „ich“ nicht will. Es geht dabei überhaupt nicht um ein Land oder eine Gesellschaft. Es geht um ein „ich“, das nicht einverstanden ist – und sich besser fühlt, wenn es mit ein paar anderen „ichs“ gemeinsam Druck ablassen und sich selbst und anderen suggerieren kann, dass sie jetzt endlich quasi als mutige Vorkämpfer einer vermeintlich schweigenden Mehrheit für die „Freiheit“ auf die Straßen gehen.
Dass wir alle gerne wieder mehr Freiheiten hätten, ist doch gar keine Frage. ALLE wollen wieder freier und unbeschwerter leben. Hier aber wird ein wichtiger und schöner Begriff wie „Freiheit“ – ganz wie Steinmeier es in seiner Ansprache andeutet – auf die rein persönliche Freiheit und letztlich eigentlich auf Egoismus reduziert. Denn an „die anderen“ ist dabei nicht gedacht. Auch nicht an die Pflegekräfte und Ärzte auf vielen Intensivstationen, die inzwischen völlig ausgelaugt sind. Das wird vom ja ach so belasteten „ich“ komplett ausgeblendet, weil es um „die“ ja nicht mehr geht, sondern um „mich“. „Ich“ habe ja meine Sorgen und Ängste – und „ich“ muss damit zurechtkommen. Was scheren „mich“ da die anderen?
In Wirklichkeit sind die als Spaziergänger getarnten Demonstranten einfach verdammt wenige. Sie sind nicht die von Bundespräsident Steinmeier zitierte „große, oft stille Mehrheit“. Ein paar Dutzend hier, ein paar Hundert dort, ein paar Tausend in Großstädten wie München oder Nürnberg. Was soll das sein, in einer Stadt wie München mit 1,4 Millionen Menschen, wo ja zudem ein Teil der Demonstranten sogar extra hingefahren ist – weil es sonst noch weniger wären? Allein in Bayern sind auf den Intensivstationen mehrere tausend Menschen an und mit Corona verstorben. Über die verlieren die Demonstranten kein Wort – die sind ja schon tot. Hier geht es ja um die „ich’s“, die keine Lust haben, für andere zurückzustecken.
Dass das Ganze belastend ist für ALLE, ist keine Frage. Dass das viele Menschen an ihre Grenzen und manchmal darüber hinaus führt, ist auch keine Frage. Dass die Coronamaßnahmen viele Härten mit sich bringen, mit für sich betrachtet sehr, sehr problematischen Situationen – wie etwa über viele Tage völlig isolierten Menschen oder psychischen Belastungen für Kinder –, ist auch schwer zu ertragen. Aber der Blick auf das große Ganze hilft immer. Es ist eine schwierige, eine nervige, eine auf vielen Ebenen und auf viele Arten anstrengende Zeit, die natürlich irgendwann enden muss und enden wird.
Aber nicht nach dem Diktat einer laut krakeenlenden, internetverseuchten Minderheit von „ich’s“, die lieber irgendwelchen wirren Pseudoinformationen aus dubiosen Quellen glaubt, als zugeben zu müssen, dass ihr „ich“ nicht mit der Lage zurechtkommt. Da schreibt man dann halt schnell große Begriffe wie „Diktatur“ und „Freiheit“ auf Protestschilder, um sich besser zu fühlen. Denn wer nur kurz sein Hirn einschalten würde, wüsste, dass das einfach nur verdammt klein gedacht und engstirnig ist.
Das einmal in diesem Kommentar so deutlich – und auch zugespitzt zu sagen –, auch das ist Meinungsfreiheit, wie sie zu einer Demokratie gehört.
Wie Frank-Walter Steinmeier es in seiner Weihnachtsansprache sagt: Denkt bitte einfach mal an die anderen! Und daran, dass es vielleicht auch anders sein könnte, als „ich“ mir das selbst so mit meinen begrenzten Möglichkeiten zusammengereimt und dafür noch so ein paar Meinungsbestätiger irgendwo im Internet gefunden habe! Dann besteht die Chance, dass aus einem selbst gewählten „ich“ auch wieder ein „uns“ wird. Sonst bleibt es auch nach Corona schwierig. Spaltung jedenfalls ist immer ein guter Nährboden für eine echte Diktatur – nicht eine erfundene, die auf irgendwelchen Protestplakaten steht.