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Jugend in der Dauerkrise? Forscher Klaus Hurrelmann über eine Jugend „im Krisenmodus“

Leistung für drei Arbeitsleben: Honorarprofessor Nechwatal verabschiedet in Ruhestand

Eichstätt. – Es war ein würdiger Abschied für einen ebenso menschlich-engagierten wie auch überzeugten Vertreter seines Faches. Es war aber auch ein überaus spannender Vortrag, den Ehrengast Klaus Hurrelmann am Dienstag anlässlich der Verabschiedung von Gerhard Nechwatal, langjähriger Lehrkraft und Honorarprofessor an der Fakultät für Soziale Arbeit an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU), gehalten hat – über ein ebenso spannendes wie hochaktuelles Thema: „Zwischen Corona-Pandemie, Klimakrise und Kriegsangst: Wo steht die junge Generation im Sommer 2022?“ Sein Fazit: Die Schere ist weiter aufgegangen – aber um die Jugend müsse man sich dennoch keine Sorgen machen.

Renommierter Gesellschaftsforscher zu Gast: Jede Generation werde durch ihre Zeit geprägt, erläuterte Gastredner Klaus Hurrelmann in seinem spannenden Vortrag. Foto: Zengerle

Pandemie, Klimawandel, Kriege – die junge Generation wächst in der Tat in einem Modus der Dauerkrise auf. Was für Erwachsene schon belastend ist, kann für die Jugend umso mehr die Frage nach den Konsequenzen aufwerfen: Welche Spuren hinterlässt das im Hinblick auf psychische Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Lebensperspektiven und die Mentalität von jungen Menschen? Durchaus erhebliche, wenn man Prof. Dr. Klaus Hurrelmann glaubt – und zwar insbesondere für die jungen Menschen, die es auch schon vor der Pandemie nicht so einfach gehabt hätten: aus sozial schwächeren und bildungsferneren Elternhäusern, die gerade in der vielen MöglichkeitenGdieser jüngsten Generation doch so wichtig seien.

Wenig entscheidungsfreudig

Denn trotz aller digitalen Selbstständigkeit, des Wohlstands der letzten Jahre und der vielen Möglichkeiten, die sich der jüngsten Generation heute böten, sei die sehr eng mit den Eltern verbunden und höre sehr stark auf Vater und Mutter. Zwar wisse die Generation genau, dass sie eine ausgeglichene Work-Life-Balance und ein erfülltes Arbeitsleben in einer sinnvollen und passenden Tätigkeit wolle und trete dabei auch selbstbewusst auf, was wiederum der sehr starken, gut ausgebildeten und gut vernetzten Babyboomer-Generation Sorgenfalten bereite, die immer noch an vielen entscheidenden Positionen in Wirtschaft und Gesellschaft sitze, so Hurrelmann. Aber worin genau dieses erfüllte Arbeitsleben bestehen solle und was sie mit ihrem Leben so alles anfangen sollten – das sei dann doch für viele junge Menschen ein großes Fragezeichen. Eben jene Vielfalt an Möglichkeiten führe bei vielen eher zu einer Art Orientierungslosigkeit und Schwierigkeiten dabei, überhaupt Entscheidungen zu treffen. Wirkliche tiefe Krisen habe gerade die junge Generation aber ja gar nicht wirklich selbst erlebt – sondern eher eine Art permanent drohende Krise.

So unterschiedlich die einzelnen jungen Menschen auch seien – dsie gesellschaftlichen Umstände einer Zeit prägten doch immer ganz erheblich das Lebensgefühl und das Verhalten zumindest eines großen Teils einer Generation, wie Hurrelmann in seinem ebenso kurzweiligen wie tiefgehenden Vortrag deutlich machte – und oft auch ganz anders, als man es erwarten würde. Statt aufzubegehren etwa habe die erste Generation nach den Weltkriegen in einem vom Krieg noch gedemütigten Deutschland, in dem existenzielle Fragen eine Rolle spielten, doch eher ein pragmatisch-angepasstes Leben geführt, statt Schuldfragen zu thematisieren oder gegen die Elterngeneration zu rebellieren. Das kam dann erst mit Verzögerung in der folgenden Generation.

Standing Ovations gab es für Honorarprofessor Dr. Gerhard Nechwatal bei seiner Abschiedsveranstaltung in der Aula der Universität. Foto: upd bei seiner Abschiedsveranstaltung in der Aula der Universität.

„Father and Son“ als passendes Lieblingslied

„Father and Son“ von Cat Stevens – einen passenderen Song hätte sich Gerhard Nechwatal zu diesem Thema auch kaum wünschen können, das eine Gruppe von Studierenden auf der Bühne dann aich aufführte. Dieses Lied, das eben jenes nicht immer einfache Verhältnis zwischen den Generationen der Eltern sowie Söhne und Töchter beschreibt, habe auch ihn immer geprägt, so Gerhard Nechwatal in seiner Ansprache auf der Bühne, in der er sich unter großem Applaus der zahlreich erschienenen Studierenden von der Hochschulfamilie verabschiedete, deren Teil er so viele Jahre gewesen war.

Wenn man sich in den Ruhestand verabschiedet, erhält man eigentlich Präsente. Doch Nechwatal nutzte seine eigene Abschiedsveranstaltung an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU) stattdessen als Rahmen, um mit dem Gastvortrag des renommierten Jugend- und Bildungsforschers Klaus Hurrelmann der Öffentlichkeit hochaktuelle, fundierte und kurzweilig vorgetragene Impulse zu schenken. Die Freude über diesen gelungenen Schlusspunkt war ihm deutlich anzumerken, aber Nechwatal habe sich ganz bewusst nicht in den Mittelpunkt gestellt: Der Hinweis auf seinen Abschied als Honorarprofessor für Psychologie an der Fakultät für Soziale Arbeit fand sich nur kleingedruckt in der Ankündigung der Veranstaltung, wie auch Dekan Prof. Dr. Frank Wießner in seiner Würdigung vor zahlreichem Publikum feststellte.

Sowohl Nechwatal als auch Hurrelmann hätten Beharrlichkeit bei der Planung der Veranstaltung bewiesen, die ursprünglich – noch unter dem Titel „Generation Greta“ – als Beitrag zum 40-jährigen Bestehen der KU im Jahr 2020 gedacht war und dann pandemiebedingt mehrfach verschoben werden musste. Die aktuellen Entwicklungen trugen auch dazu bei, dass sich das Thema laufend erweiterte bis hin zum aktuellen Vortragstitel „Zwischen Corona-Pandemie, Klimakrise und Kriegsangst: Wo steht die junge Generation im Sommer 2022?“.

Wirken „für drei Arbeitsleben“

„Arbeitspensum für drei Leben“: Dekan Frank Wießner würdigte Gerhard Nechwatal für sein großes Engagement für so viele Menschen und Generationen. Foto: Zengerle

Wießner würdigte Nechwatal als Persönlichkeit, deren Wirken „für drei Arbeitsleben“ reiche. Nach einer Ausbildung zum Schaufensterdekorateur wurde Nechwatal über den zweiten Bildungsweg Diplom-Pädagoge und Diplompsychologe, wurde promoviert mit einer Arbeit zur Leitung sozialer Einrichtungen. Nechwatal war „unglaubliche 30 Jahre“ in verschiedenen Positionen im Caritas-Kinderdorf Marienstein tätig, in dem er unter anderem stellvertretender Leiter des Therapie- und Beratungsbereichs war.

Zwischen 2008 und 2011 leitete er die psychologischen Beratungsstellen für Ehe-, Familien- und Lebensberatung des Diözese Augsburg in Schrobenhausen, Neuburg und Pfaffenhofen. Von 2011 bis 2017 war er Leiter der Ehe-, Familien- und Lebensberatung (EFL) im Bistum Eichstätt. 2012 schließlich ernannte ihn die Fakultät für Soziale Arbeit zum Honorarprofessor – als Anerkennung seines Wirkens als Lehrbeauftragte für die Fakultät seit den 1990er-Jahren. Dabei hat Nechwatal, wie Dekan Wießner betonte, „weitaus mehr als das vorgesehene Deputat übernommen und rund 100 Abschlussarbeiten betreut“.

Zu seinem offiziellen Ruhestand im März 2020 habe Nechwatal trocken angekündigt: „Ich habe da noch den Klaus Hurrelmann“, erzählte Wießner. Und auch wenn sich Gastgeber und Referent zuvor noch nicht begegnet sind, merkte man, dass sie sich auf Anhieb sympathisch waren. Hurrelmann gehört seit 2002 dem Leitungsteam der Shell-Jugendstudien an und begründete die World-Vision-Kinderstudien. Zudem hat er zahlreiche Lehrbücher in deutscher und englischer Sprache veröffentlicht, darunter „Einführung in die Sozialisationstheorie“, „Lebensphase Jugend“, „Kindheit heute“ und Handbücher zur Sozialisations- und Gesundheitsforschung. Sein Modell der „produktiven Realitätsverarbeitung“, das die Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen als Auseinandersetzung mit der äußeren und inneren Realität beschreibt, ist unter anderem auch Stoff für Abiturprüfungen. Das führt bisweilen zu kuriosen Anfragen von Schülern an den Forscher, die – wie er berichtete – ihn um Erläuterungen bitten, da er „ja noch lebt“. Die von ihm präsentierten Zitate aus E-Mails junger Leute sorgten denn auch für allerhand Lacher – zeigten aber auch, wie sehr auch die jungen Leute selbst ihre eigene Generation und ihre Sicht auf die Dinge reflektieren.

„Krisenmodus“ hält in Atem

In seinen komplett ohne mediale Unterstützung vorgetragenen und dennoch kurzweiligen und prägnanten Ausführungen ließ Hurrelmann die Entwicklung der Generationen der vergangenen 100 Jahre Revue passieren.  So habe der Soziologe Helmut Schelsky in der Nachkriegszeit die Jahrgänge von 1925 bis 1940 untersucht. „Alle glaubten, diese Generation rechnet mit ihren Eltern ab“, so Hurrelmann. Doch das schicksalhafte Erleben sei dominant, die Generation zwar skeptisch, jedoch nicht politisch engagiert gewesen. Die damalige Jugend habe sich angesichts fehlender Existenzperspektiven im Nachkriegsdeutschland im „Überlebensmodus“ befunden. Erst die Folgegeneration sei dann eine politische gewesen. Die heute 60- bis 65-jährigen Babyboomer hätten zentrale Positionen besetzt. Die ihnen folgenden Generationen hätten erstmals auch negative wirtschaftliche Entwicklungen erlebt, später auch Terroranschläge. Dies habe wiederum zu einem Schulterschluss über Generationen hinweg geführt auch im Sinne einer wirtschaftlichen Absicherung.

Die aktuelle junge Generation wiederum stand im Mittelpunkt der gerade erschienenen Trendstudie „Jugend in Deutschland“, deren Co-Autor Hurrelmann ist. „Geht es den unter 25-Jährigen wirklich so schlecht?“, fragte er und stellte einige zentrale Ergebnisse der Erhebung vor. Zwar sei eine persönliche Zufriedenheit bei den jungen Menschen in Deutschland festzustellen, der Krisenmodus angesichts von Corona, Klimawandel und Krieg halte sie jedoch in Atem. Die jungen Menschen selbst hätten die Klimakrise ins Zentrum der Aufmerksamkeit geführt. Die eigentlich in diesem Alter natürlich vorhandene Selbstzuversicht habe eingebüßt.

Abhängigkeit und unproduktive Nutzung digitaler Kanäle

Für manche seien digitale Kanäle zum Anlass für Abhängigkeit und nicht produktive Nutzung geworden. Auch im Zuge der Pandemie sei mittlerweile ein Drittel der jungen Menschen im Bildungsbereich „eingeknickt“, die soziale Ungleichheit sei gestiegen. Gerade im Umgang mit digitalen Medien durch die junge Generation habe die Gesellschaft vieles verschlafen – hier brauche es ganz dringend ein Umdenken. Das sei ein absolut neuralgischer Punkt und eine Schlüsselfrage für die Zukunft unserer Gesellschaft, so Hurrelmann in einer lebhaften Diskussion mit vielen Fragen aus einem hochinteressierten Publikum in der Aula der KU.

Er sieht daher dringenden Handlungsbedarf im Bildungssystem für alle Entwicklungsaufgaben – von der reinen Qualifikation über Beziehungsfähigkeit und Eigenständigkeit bis hin zum souveränen Umgang mit Medien und einer Werteorientierung. „Die Unterstützungssysteme, die wir heute haben, sind nicht ausreichend! Junge Menschen wünschen sich gerade im schulischen Kontext mehr niedrigschwellige Beratungsangebote, die unkompliziert verfügbar sind“, so Hurrelmann.

Hohes Einvernehmen mit den Eltern

Gleichzeitig würden derzeit die guten beruflichen Chancen die aktuellen Belastungen kompensieren. Jährlich würden 500.000 Menschen der Babyboomer-Generation das Berufsleben verlassen. Dabei sei wiederum die Berufswahl selbst eine Belastung angesichts einer Fülle an Möglichkeiten, die einen enormen Bedarf an Beratung nach sich ziehe. „Nichts steht uns im Weg. Aber das ist auch unser Problem. Wir haben so viele Möglichkeiten, dass wir erst einmal nicht wissen, was wir machen sollen“, zitierte Hurrelmann einen 18-jährigen Befragten. Hinzu komme, dass die Eltern für die aktuelle Generation die „Chefberater“ seien in allen Aspekten des Lebens. „Eine so hohes Einvernehmen zwischen Eltern und Jugendlichen haben wir in früheren Untersuchungen so nicht beobachtet.“ Das führe auch dazu, dass nicht die Jugendlichen selbst zu Beratungsterminen gingen, sondern die Mütter und Väter: „Meine Tochter hat heute eine ganz wichtige Party.“ Die Folge davon seien auch Entscheidungsschwäche und weniger Selbstständigkeit.

Kritik an der Jugend schon bei Sokrates

Dennoch habe die junge Generation innovative Lebensentwürfe vor Augen und bleibe optimistisch trotz großer Belastungen. Für sie sollen Lebensqualität und Arbeitsqualität miteinander verbunden sein. „Digital groß geworden wissen die jungen Leute, dass man theoretisch 24/7 arbeiten könnte, wenn man wollte. Und sie sind sich bewusst, dass es Unternehmen gibt, die dies auch wollen wollten. Deshalb halten sie sich sehr zurück und haben eine eingebaute Burnout-Sperre.“ Unterm Strich handele sich bei der aktuellen Generation um eine „wie immer“ – mit Stärken und Schwächen.

Schon Sokrates werde ein Abgesang auf die junge Generation nachgesagt: „Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer“ – dieses Zitat werde dem berühmte griechischen Philosophen der Antike zugeschrieben, so Hurrelmann. Sokrates habe angesichts dessen schwarz gesehen für die Zukunft. Der Rest aber ist Geschichte: Es sei anders gekommen. „Die Jugend ist so groß geworden, wie sie die Verhältnisse groß gemacht haben“, so Hurrelmann gegen Ende seines Vortrags. Kritik an der Jugend sei letztlich auch immer Kritik an der Elterngeneration. „Deshalb lohnt sich eine Kritik an der jungen Generation moralisch überhaupt nicht.“ Stephan Zengerle/upd

Quelle
upd
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